Im Reich des Vergessens

Manche Formen der Demenz verändern die Persönlichkeit der Menschen grundlegend.
Für Angehörige ist das äussert belastend.

Die Verarmung, der Rückzug und die Vereinsamung vieler älteren Menschen in der Schweiz,
auch in meinem Umfeld, hat mich zu dieser Reportage bewogen.

Daraus ist ein bewegender Blick auf dieses Thema entsanden. Wer kümmert sich
wann um diese Menschen, wie geht man mit Demenz um. Frau Mensch ist eine von
Vielen welche in Vergessenheit geraten sind.

Ihre Schuhe abgewetzt, ihr Rock zerrissen, die Haare zerzaust, klaffende Löcher ihn ihrem Mantel: Das ist die Geschichte von Frieda Mensch, einer Frau, die ihre innere Verarmung nach aussen trug.
Da liegt sie, in ihrem Bett im Pflegeheim Schlössli in Biel, und erzählt den Besuchern von ihrer Tochter. Diese lebe in Zürich und arbeite dort. Frieda Mensch feiert bald ihren 95. Geburtstag und ist das, was man eine rüstige Rentnerin nennt. Körperlich jedenfalls mag sie mit noch vielen jüngeren Zeitgenossen mithalten. Die Besucher neben ihrem Bett, das sind der Bieler Fotograf Rolf Neeser und Kathia Mensch. Letztere ist ihre Tochter, ihre einzige Tochter, also die Frau, die in Zürich lebt und ihrer Mutter nun zuhört, wie sie über sie erzählt, als wäre sie nicht da. Die Demenz, sie schreitet immer weiter voran. Kathia Mensch lächelt trotzdem. Sie sagt, ihrer Mutter gehe es gut. Sie muss sich keine Sorgen um sie machen. Nicht mehr.
Zeitsprung: Rund drei Jahre ist es her, als Fotograf Rolf Neeser durch Biel geht. Am Guisanplatz entdeckt er eine Frau, die orientierungslos wirkt und der es schwindelig zu sein scheint. Neeser fragt sie, ob er ihr helfen könne. Die Frau will nach Hause. Ihre Wohnung ist an der Güterstrasse, also nicht weit entfernt. Der Fotograf begleitet die Frau nach Hause und als er vor dem Gebäude steht, macht es Klick: „Sagen Sie, ich kenne jemanden, der früher hier gewohnt hat. Kennen Sie Frau Mensch?“ Die Frau bejaht: „Ich bin Frau Mensch.“
Diese Begegnung, sie lässt Rolf Neeser nicht mehr los. Frieda Mensch war eine Dame: stets gepflegt, stets gut gekleidet. Sie arbeitete über 40 Jahre lang im Bieler Bahnhofbuffet; im Bereich für die 1.-Klasse-Gäste, wohlverstanden. Die Frau, die Neeser nach Hause begleitet hat, erinnert so gar nicht mehr an die Dame von damals. Sie wirkt verwahrlost. Das weisse Haar, es ist total zerzaust. Ihr linker Schuh ist dermassen abgewetzt, dass der grosse Zeh hervorschaut. Ihr Mantel, ihr Pullover, ihr Rock, überall sind Risse in den Kleidern. Er beschliesst, die Tochter von Frieda Mensch zu kontaktieren.
Kathia Mensch und Rolf Neeser, beide mit Jahrgang 1959, kennen sich aus ihren Jugendjahren. Kathia Mensch absolvierte ihre Lehre als Fotolaborantin im Fotogeschäft von Rolf Neesers Eltern in Biel. Da haben sich die beiden regelmässig getroffen. Und von daher kannte Neeser auch Kathia Menschs Mutter, die gelegentlich im Geschäft vorbeischaute. Nach der Lehre, die 80er hatten gerade begonnen, zog Kathia Mensch nach Zürich, der Kontakt zu Rolf Neeser brach ab. Fast 40 Jahre später erhielt sie von ihm ein Telefon, eine gemeinsame Bekannte hatte den Kontakt hergestellt. Ihr Jugendkollege berichtete von seiner Begegnung mit ihrer Mutter. Nach so langer Zeit wieder von Rolf Neeser zu hören, das war für Kathia Mensch eine Überraschung. Was er ihr aber berichtete, nein, das erstaunte sie nicht.
Begonnen hatte alles vor rund sechs Jahren. Bei ihren Besuchen in Biel hatte Kathia Mensch zuvor immer den Eindruck, ihrer Mutter gehe es gut. Sie traf sich regelmässig mit früheren Arbeitskolleginnen zum Kaffee und war körperlich fit. Doch dann, vor rund sechs Jahren, wurde auf einmal alles anders. Die Nachbarn waren nicht mehr die, die Frieda Mensch kannte. Ihre Freundinnen von früher verstarben oder waren nicht mehr in der Verfassung, sich mit ihr zu treffen. Kurz gesagt: Frieda Mensch verlor ihre sozialen Kontakte und war plötzlich allein.
Davon erzählt hat sie ihrer Tochter nichts. Doch diese merkte, wie sich ihre Mutter veränderte. Zum einen lagen da immer dieselben Briefe auf dem Küchentisch, ungeöffnet, dabei hatte „Mami“ doch ihre Sachen immer im Griff. Und zum anderen, was ihr noch frappanter erschien, hörte ihre Mutter auf, sich zu pflegen. Sie kämmte sich nicht mehr und sie trug tagein, tagaus dieselben Kleider. Die Verwahrlosung nahm ihren Lauf, die Kleider nützten sich immer mehr ab. Kathia Mensch erhielt Anrufe von alten Bekannten aus Biel, die ihrer Mutter auf der Strasse begegnet waren und nicht glauben konnten, was sie sahen. Denn ja, auch sie hatten „Frau Mensch“ als eine Dame in Erinnerung, die stets viel Wert auf ihr Äusseres gelegt hatte. Kathia Mensch erinnert sich noch bestens, wie oft sie mit ihrer Mutter gestritten hatte, weil sie sich als Jugendliche an ausgefallene Outfits wagte. So ging sie oft adrett gekleidet aus der Wohnung, um ihrer Mutter zu gefallen, und zog sich dann im Keller um. Die Berichte über ihre Mutter, sie bereiteten ihr Sorgen. Sie reiste mehrfach nach Biel und versuchte, die abgewetzten Kleider loszuwerden. Doch die Mutter weigerte sich. Sie hatte den Schrank voller hochwertiger Kleidungsstücke, gute Schuhe, gute Mäntel, neue Röcke. Doch Kathia Mensch schaffte es nicht, die Mutter zu überzeugen, für einmal etwas anderes anzuziehen. Nicht einmal zum Schlafen legte Frieda Mensch ihr Outfit ab.
Kathia Mensch versuchte es mit professioneller Hilfe. Sie engagierte einen Essensdienst für ihre Mutter. Doch als sie nach einem Monat wieder auf Besuch kam, musste sie feststellen, dass ihre Mutter das gelieferte Essen nicht angefasst hatte. Vor der Türe türmten sich die vakuumverpackten Essensboxen. Auch mit der Spitex hat sie es probiert. Am Anfang funktionierte es sogar. Doch dann öffnete Frieda Mensch einfach nicht mehr die Türe, wenn die Spitex-Mitarbeiterin klingelte. Und dann zog sie auch noch dem Telefon den Stecker. Kathia Mensch konnte ihre Mutter nicht mehr erreichen und dachte an das Schlimmste. Sie alarmierte die Polizei – und erfuhr dann von den Beamten, der Mutter gehe es bestens, sie habe einfach keine Lust auf das Geklingel des Telefons gehabt.
„Ich wusste nicht mehr, was ich tun kann. Mami wollte sich nicht helfen lassen. Von niemandem. Sie machte einfach dicht“, blickt Kathia Mensch im Gespräch zurück. „Ich musste es darauf ankommen lassen, dass irgendetwas passiert, das deutlich macht, dass es so nicht weitergehen kann.“ Doch soweit war es noch nicht.
Es gab da trotz allem einen Menschen, der regelmässig Kontakt zu Frieda Mensch hatte. Denn Fotograf Rolf Neeser liess es nicht bei diesem einen Treffen bewenden. Er fragte die Frau, ob er sie mit der Kamera begleiten dürfe und sie ihm aus ihrem Leben erzählen würde. Frieda Mensch sagte zu. Und so hatte er während fast zwei Jahren Kontakt zu der bald 95-Jährigen, dokumentierte ihr Leben mit eindrücklichen Aufnahmen. Oft traf er sie auf einem Bänkli direkt vor der Migros an der Bahnhofstrasse. „Als ob sie auf einen Bus wartete, der nie kam“, so Neeser. Dort war sie unter Leuten, es passierte etwas um sie herum – auch wenn niemand mit ihr sprach. Ausser eben dieser Fotograf, den sie aus früheren Jahren kannte und jetzt plötzlich regelmässig neben ihr Platz nahm.
Neeser tauschte sich regelmässig mit Kathia Mensch aus, zeigte ihr immer wieder die neu entstandenen Aufnahmen. Die Fotos, nein, sie kaschieren nichts und zeigen schon gar keine heile Welt. Im Gegenteil dokumentieren sie einen menschlichen Zerfall. Und trotzdem sagt Kathia Mensch: „Ich hatte wirklich Freude, weil ich gemerkt habe: Da hat jemand Interesse an Mami. Es war mehr als ein oberflächlicher Kontakt. Die Fotos, die er gemacht hat, sind sehr schön, auch wenn das, was zu sehen ist, nicht schön ist. Er hat damit einfach die Realität eingefangen.“
Auch Rolf Neeser merkte, wie es Frieda Mensch zunehmend schlechter ging. „Sie bewegte sich immer mehr in ihrer eigenen Wolke“, beschreibt er es. Und dann kam der Tag, den sich Kathia Mensch irgendwie herbeigesehnt hatte. Es passierte etwas, das alles veränderte. Es war ein heisser Sommertag, als die Polizei in das Pärkli hinter dem Kongresshaus gerufen wurde. Hier, unweit von ihrem zu Hause, sass Frieda Mensch den ganzen Tag auf einem Bänkli unter der prallen Sonne und wusste nicht mehr, wo ihre Wohnung war. Einer Frau aus der Nachbarschaft war die ältere Dame aufgefallen, sie wählte den Notruf. Es war der Knall, der dazu führte, dass die Ärzte eine Überweisung in ein Pflegeheim anordneten. Und es war der Moment, als Kathia Mensch wieder ruhiger wurde. Es gab zwar einiges zu tun, aber fortan wusste sie, dass ihre Mutter behütet lebt und die Hilfe bekommt, die sie braucht.
Ende November hat sie ihre Mutter zum letzten Mal besucht. Es war der Tag, als sie und Rolf Neeser sich nach fast 40 Jahren zum ersten Mal wieder persönlich begegnet sind. Sie waren zusammen essen, haben gemeinsam Frieda Mensch besucht und sich danach mit dem BT zum Interview getroffen. Es gibt einiges zu lachen, wenn die beiden in der Vergangenheit schwelgen. Und sie werden nachdenklich, wenn sie über Frieda Mensch reden. Rolf Neeser sagt, die Bilder, die während der Zeit entstanden sind, in der er die Seniorin begleitet hat, seien „etwas vom stärksten, das ich je gemacht habe“. Dieses Schicksal, es habe sich nicht irgendwo in einem abgelegenen Dorf ereignet, diese Vereinsamung sei mitten in einer lebendigen Stadt wie Biel passiert. Selten sei er von einer Arbeit so berührt gewesen. „Es ist etwas, das in allen Familien vorkommen kann. Vielleicht nicht in diesem Ausmass, aber viele Familien sind damit konfrontiert, dass sich jemand zurückzieht und niemanden mehr an sich heranlässt. Sie bauen sich ihre Burg auf und wollen diese nicht verlassen.“ Bei Frieda Mensch seien es die Kleider gewesen, die zu ihrem Kokon wurden, zu ihrem Schutzpanzer, den sie nicht ablegen wollte. Kathia Mensch sitz daneben und stimmt ihm zu. Sie weiss, nach aussen habe ihre Mutter den Eindruck hinterlassen, als sei sie im Alter verarmt. „Aber es war keine materielle Verarmung, sondern eine menschliche.“ Das, was sichtbar wurde, war ein Ausdruck von dem, was in ihrem Inneren passiert ist.
Und dieses Schicksal gibt den beiden zu denken. Beide sind 60 Jahre alt, haben nie geheiratet, haben keine Kinder und auch sonst keine näheren Verwandten mehr. Wie wird es ihnen ergehen, im hohen Alter? Das ist die Frage, die sie umtreibt, wenn sie über das Schicksal von Frieda Mensch sprechen. „Altwerden ist nichts für Feiglinge“, sagt Kathia Mensch. Und Neeser wirft ein, es könne jeden treffen. Vor so einem Schicksal, sind sie sich einig, könne man sich wohl gar nicht schützen. Aber man könne es probieren, sagt Kathia Mensch. Sie sei eine, die auf Menschen zugehe, stets grüsse, auf der Strasse den Leuten ein Lächeln schenke. „Ich hoffe, dass das, was man gibt, irgendwann zurückkommt.“